Die freie Meinungsäußerung im Internet ist in der Türkei mehr und mehr durch wachsende Selbstzensur der JournalistInnen gefährdet.
Aus dem jüngsten halbjährlichen Twitter-Transparenzbericht für das erste Halbjahr 2017 ging hervor, dass Twitter von türkischen Behörden weiterhin die meisten Anfragen für das Löschen oder Zurückhalten von Inhalten erhält. Die Anfragen aus der Türkei machen rund 45 Prozent der gesamten Anfragen aus allen Ländern weltweit aus.
Aktuell sind 152 JournalistInnen hinter Gittern. Viele weitere werden strafrechtlich verfolgt – darunter einige, die beschuldigt werden, terroristische Propaganda über Twitter verbreitet zu haben, nachdem linksgerichtete Hacker E-Mails aus einem privaten Konto des türkischen Energieministers, des Schwiegersohns von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, veröffentlicht hatten.
Zahlreiche weitere inhaftierte JournalistInnen wurden durch Social Media Posts oder Kommentare im Netz zur Zielscheibe.
Dieser Druck kann zu schleichender und zunehmender Selbstzensur unter JournalistInnen führen – ein Klima, das auch vor dem Putschversuch im Juli 2016 im Land herrschte und welches sich in der Zeit danach, so wird befürchtet, noch verschlechtert hat.
Dennoch unternehmen einige JournalistInnen weiterhin große Anstrengungen, um kritische Berichterstattung sowie Analysen zu veröffentlichen, und unabhängige sowie alternative Medien versuchen weiterhin, dem Druck der Regierung standzuhalten.
Massive Zunahme der Selbstzensur
Das International Press Institute (Internationales Presseinstitut, IPI) sprach kürzlich mit JournalistInnen aus der Türkei über Selbstzensur in ihrem Berufsstand nach dem Putschversuch, insbesondere angesichts der Verhaftungen vieler ihrer KollegInnen. Die befragten JournalistInnen berichteten in großer Mehrheit von einer zunehmenden Selbstzensur.
Özgür Amed – ein kurdischer Journalist, der zwei Jahre lang aufgrund seiner Teilnahme an einem mit dem “Roboski”-Massaker im Dezember 2011 (bei dem türkische Luftstreitkräfte 34 Zivilisten in der südöstlichen Türkei töteten) in Zusammenhang stehendem Meeting im Gefängnis verbrachte – sagt, dass er die Veränderung nach seiner Freilassung im Juni wahrnahm.
„Bevor ich 2015 verhaftet wurde, existierten kritische soziale Medien in der Türkei”, erklärt er. „Nun haben viele ihre Namen auf Twitter geändert. Niemand schreibt mehr kritisch – alles was bleibt, sind lustige Videos, die geteilt werden. Im letzten Jahr wurden viele JournalistInnen wegen ‚Gefällt mir‘-Angaben auf Facebook oder ‚Retweets‘ auf Twitter verhaftet. Und das führt natürlich zur Selbstzensur unter JournalistInnen.”
Ein Journalist einer der größten türkischen Zeitungen, der gerne anonym bleiben möchte, ergänzt, dass „jeder in der Branche auf die ein oder andere Weise vom Ausnahmezustand, den Gesetzesdekreten und anderen beschränkenden Maßnahmen betroffen ist”. Er sagt außerdem, dass JournalistInnen „in einer Umgebung, in der man sogar schon aufpassen muss, was man anzieht, ihren Job oder sogar eine Verhaftung riskieren, wenn sie sich nicht der Selbstzensur unterziehen”.
Dieser Kommentar bezieht sich auf einen Militäroffizier, welcher der Beteiligung am Putschversuch beschuldigt wird und vor Gericht mit einem T-Shirt bekleidet war, auf dem “HERO” stand. Alle Menschen, die mit einem ähnlichen T-Shirt gesehen wurden, wurden verhaftet, obwohl das T-Shirt landesweit ohne Kontroversen verkauft wurde – bis es der Offizier vor Gericht trug.
Beziehungen zur Regierung
Erol Önderoğlu, der türkische Vertreter der Reporter ohne Grenzen (RSF), betont, dass JournalistInnen, deren ideologische Ansichten für die derzeit herrschenden Machthaber inakzeptabel sind, in Bezug auf Massenmedien in der letzten Zeit in den Hintergrund gedrängt wurden, während für andere Platz gemacht wurde, die vielleicht eher mit den Vorstellungen der Regierung konform gehen.
„Tausende wurden gekündigt…“, erzählt er. „Diese JournalistInnen wurden aus den Massenmedien verbannt und dazu gedrängt, für kleinere, alternative Medien zu arbeiten. Heute ist der redaktionelle und ideologische Druck in den Medien allgegenwärtig. Jene, die immer noch für diese [Massen]medien arbeiten, haben die Selbstzensur internalisiert“.
Andere JournalistInnen verbinden Selbstzensur mit der Arbeit für ein Medium, das sich im Besitz von Personen befindet, die Verbindungen oder kommerzielle Beziehungen zur Regierung haben.
„Selbstzensur ist unter JournalistInnen in der Türkei leider sehr stark verbreitet“, sagt Autor und langjähriger Journalist Hasan Cemal. „Erdoğans Regierung hat es geschafft, ein Klima der Angst unter Medien zu schüren, sodass jede Person weiß, was sie zu schreiben und zu berichten hat und den Rest vergisst. Diese Unterdrückung und Selbstzensur nehmen seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 immer mehr zu, weil das ‚Ein-Mann‘-Regime jeden Tag an Macht gewinnt“.
Mehveş Evin, ehemalige Journalistin der Zeitung Milliyet – eine der größten Zeitungen des Landes – sagt: „Ich wurde gefeuert, weil ich weiterhin das geschrieben habe, was ich wollte”. Nun, da sie beim Nachrichtenportal Artı Gerçek arbeitet, beobachtet sie, dass sogar große Medien nicht gegen den Druck immun sind, der derzeit auf Medien in Bezug auf die Wahl der Themen in ihrer Berichterstattung herrscht.
„Heute wird die Doğan Group, eine der größten Medienkonzerne in der Türkei, als eine unabhängige, oppositionelle Gruppe gesehen – und auch dieser Konzern steht schon unter enormem Druck“, erklärt sie.
Ein häufiger Kritikpunkt ist die Tatsache, dass die Massenmedien in der Türkei so stark auf Regierungskurs sind, dass von kritischer Berichterstattung kaum mehr etwas übrig ist.
„Diese Medien wurden standardisiert – sogar soweit, dass identische Schlagzeilen verwendet werden, insbesondere nach dem 15. Juli“, sagt der kurdische Autor und Journalist Amed Dicle.
JournalistInnen, die keinen Platz mehr in den Massenmedien haben, müssen für kleinere Medienkonzerne arbeiten, vor allem für Nachrichtenportale, wo hohe finanzielle Strafen und andere Sanktionen leichter vermieden werden können. Diese Situation wird sich aber ändern und es wird in Zukunft auch Druck auf alternative Medien ausgeübt werden.
Alternative Medien wehren sich
JournalistInnen, die für alternative Medien arbeiten, wehren sich weiterhin trotz Strafverfolgung, Klagen und immer schlechter werdendem wirtschaftlichen Klima. In manchen Fällen gibt es de facto Regierungsverbote, öffentliche Werbegelder an bestimmte Medien fließen zu lassen.
„Heute werden Zeitungen wie Cumhuriyet, eine der unabhängigsten, kritischsten Zeitungen, durch solche Rechtsstreitigkeiten eingeschränkt“, sagt Evin.
Mit der Feststellung, dass „alternative digitale Medien mehr Freiheit gegenüber der gedruckten Presse haben und eine extrem wichtige kritische Stimme sind“, weist sie auf die Schwierigkeiten hin, die diese Medien immer noch haben: „Sie wollen den qualitativen Journalismus aufrechterhalten, stehen aber vor finanziellen Problemen“.
Önderoğlu betont ebenfalls, dass alternative Medien ihre Berichterstattung fortsetzen – trotz aller Schikanen und Verleumdungskampagnen sowie der Einführung überstrenger Regelungen.
„Kleine aber unabhängige Zeitungen wie Cumhuriyet, Evrensel, Birgün und Sözcü vertreten weiterhin verschiedene Stimmen des Landes mit unterschiedlichen Hintergründen, stehen aber jeden Tag einer neuen Klage gegenüber”, sagt er. „In den letzten Jahren wurden diese Medien so behandelt, als wären sie Presseorganisationen von verbotenen Gruppierungen”.
Pro-kurdische Medien, die jahrzehntelang unter enormem Druck standen, haben ebenfalls ihre Berichterstattung fortgesetzt.
„Zahlreiche Medienorganisationen und Webseiten wurden geschlossen, viele Twitter-Accounts gesperrt– einschließlich meinem”, sagt Dicle. „Es herrscht ein großer Druck, die Medien mundtot zu machen und unabhängige Stimmen daran zu hindern, Menschen zu erreichen. Die kurdische Presse ist diese Art der Unterdrückung, im Gegensatz zu Massenmedien, gewohnt. Deshalb waren kurdische Medien von diesem Druck nicht so stark betroffen wie Massenmedien“.
Heute unterliegen die meisten Medien des Landes einer strengen Kontrolle durch die türkische Regierung, welche alternative Medien ins Visier nimmt, um zu verhindern, dass Kritik gehört wird. Dennoch produzieren einige tapfere und entschlossene JournalistInnen des Landes weiterhin unabhängige Nachrichten und Kommentare – und riskieren damit ihre Freiheit. Ihr anhaltender Mut verdient unsere Anerkennung und unsere Unterstützung.
Aus dem Englischen übersetzt von Katja Deinhofer.