Der 10. Dezember 2017, Internationaler Tag der Menschenrechte, läutete das 70. Jubiläum der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, welches 2018 gefeiert wird, ein. Aus diesem Anlass veröffentlicht das International Press Institute (Internationales Presseinstitut, IPI) eine Serie von vier Artikeln. Diese wurden von JournalistInnen in der Türkei verfasst, welche die Auswirkungen, die der Druck auf die Medien auf andere Aspekte einer demokratischen Gesellschaft hat, genauer unter die Lupe genommen haben. Dieser Artikel ist der zweite von vier Beiträgen in dieser Serie.
Jedes Jahr, wenn der Internationale Tag der Arbeit am 1. Mai näher rückt, beginnen die türkische Regierung und ihre Gewerkschaften mit der Ausführung eines Rituals. Die ArbeiterInnen möchten diesen Tag auf dem berühmtesten Platz der größten türkischen Stadt feiern – die Regierung besteht aber darauf, dass diese das woanders tun, am besten an einem Ort, an dem sie nicht gesehen werden. Diese Pattsituation bleibt so lange bestehen, bis Tränengas eingesetzt wird.
Sogar an diesem einen Tag, an dem die ganze Welt innehält und die Arbeiterbewegung feiert, sind ArbeiterInnen kaum sichtbar.
Diese „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Methode der Arbeitsorganisation geht weit über die Unsichtbarkeit der ArbeiterInnen auf den Straßen hinaus und reicht hinein in Nachrichtenredaktionen – dort sind ArbeiterInnen auffallend selten in der Berichterstattung der Mainstream-Medien zu finden – außer eine Story ist zu groß, um sie ignorieren zu können, was normalerweise bedeutet, dass mehrere ArbeiterInnen gestorben sind.
„Die Medien sind sehr effektiv, wenn es darum geht, Ergebnisse zu erzielen“, sagt MP Seyit Torun, stellvertretender Vorsitzender der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). „Aber seit wir es mit regierungsfreundlichen Medien zu tun haben, führt die Einforderung von Rechten leider zu keinem Erfolg, weil aufgrund des Drucks der Regierung über nicht ausführlich genug über sie berichtet wird.“
Torun und die CHP organisierten im September einen Protestmarsch für Haselnussproduzenten, um gegen die Preispolitik der Regierung zu protestieren. Der dreitägige Marsch zwischen den nördlich liegenden Städten Ordu und Giresun stand ganz im Zeichen der „Gerechtigkeit für Haselnüsse“ und war ein voller Erfolg. Mehr als 3000 Menschen nahmen an diesem Marsch teil, der schließlich zu einer Einigung zwischen der Regierung und den Produzenten hinsichtlich der Forderungen letzterer führte. Bis jetzt haben Mainstream-Medien kaum über diese Story berichtet. Es scheint, als gehören Stories wie diese eher in die Berichterstattung der Social Media oder der verbliebenen kritischen Medien in der Türkei.
Das fehlende Interesse der Medien hinsichtlich der Berichte über ArbeiterInnen ist eng mit dem fehlenden Interesse der Regierung verknüpft, diese Berichte hören zu wollen. Da kritischere Medien im Verlauf der Jahre immer mehr unter Druck gesetzt wurden und durch regierungsfreundliche Pendants, im Besitz von Verbündeten von Ankara, ersetzt wurden, kann die Mainstream-Berichterstattung kaum von offiziellen Pressemitteilungen der Regierung unterschieden werden.
Aber der gescheiterte Putschversuch im Juli 2016 und die nachfolgende Verhängung des Ausnahmezustandes bot der Regierung die perfekte Universalausrede, um die Berichterstattung zu kontrollieren.
Umfassend dokumentierte Landschaft
Der trostlose Zustand der türkischen Medienlandschaft ist bereits umfassend dokumentiert: laut aktuellen Zahlen der türkischen Journalistengewerkschaft (TGS) wurden mindestens 148 JournalistInnen verhaftet und über 150 Medien wurden im Schnellverfahren geschlossen. Reporter ohne Grenzen (RSF), welche die Türkei auf Platz 155 von 180 auf ihrer Rangliste der Pressefreiheit 2017 platzieren, beschreiben den Zustand der Pressefreiheit als „katastrophal“.
Laut Torun wurde die Situation in den letzten Jahren immer schlimmer – ein Gefühl, das auch von Umar Karatepe bestätigt wird, Medienexperte der Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK), eine der größten und aktivsten Arbeitergewerkschaften der Türkei.
Karatepe erklärt, dass die Auswirkungen des Putschversuches auf die Sichtbarkeit von ArbeiterInnen in den Medien – die ohnehin nie hoch war – dramatisch sind.
„Ein Beispiel sind unsere Pressekonferenzen“, sagt er. „Früher war der Raum, in dem wir eine Pressekonferenz abgehalten haben, voll mit Kameras. Das alles änderte sich mit der Verhängung des Ausnahmezustandes.
Mit Verweis auf die während des Ausnahmezustandes angeordnete Schließung von Sendern wie Hayat TV und IMC, welche regelmäßig über ArbeiterInnen berichteten, ergänzt er: „Wir haben das Fernsehen verloren. Es geht nicht nur darum, dass die Sender, auf denen wir sichtbar waren, stillgelegt wurden. Es geht vor allem auch darum, dass dies eine ernsthafte Bedrohung für alle anderen Menschen bedeutet. Früher wurden wir zum Beispiel regelmäßig vom Sender CNN Turk eingeladen.“
Die Regierung verteidigt ihr hartes Vorgehen und behauptet, dass sie existenzielle Bedrohungen bekämpfe und leugnet, dass jene Menschen, die verhaftet wurden, JournalistInnen sind.
„Die meisten von ihnen sind TerroristInnen“, erzählte Präsident Recep Tayyip Erdogan Bloomberg im September. „Viele waren an Bombenanschlägen oder Einbrüchen beteiligt.“
Inzwischen behaupten KritikerInnen, dass sich das harte Vorgehen der Regierung vom ursprünglichen Ziel – jene strafrechtlich zu verfolgen, die in den Putschversuch verwickelt waren – dahingehend entwickelte, dass nun jede Person zur Zielscheibe wird, die für die regierende Partei als problematisch gilt. Manche dieser KritikerInnen sitzen nun im Gefängnis.
Dasselbe Ergebnis
Ob die Handlungen der Regierung nun Teil eines legitimen Kampfes gegen reale Bedrohungen sind oder ein autoritärer Versuch, Kritik im Keim zu ersticken – das Ergebnis bleibt dasselbe: JournalistInnen beschränken sich in ihrer Berichterstattung auf wenige Themen und Sichtweisen, die keine Schwierigkeiten bringen. Stories, welche die Regierung nicht hören will – zum Beispiel Korruptionsvorwürfe oder unzufriedene, streikende ArbeiterInnen – werden meist nicht näher untersucht, mit Ausnahme von einer Handvoll kleinerer Medien. Reporter ohne Grenzen (RSF) erklärt: „Medienpluralismus beschränkt sich auf eine Handvoll auflagenschwacher Zeitungen.“
Diese Handvoll Zeitungen, sowie einige Online-Medien veröffentlichen immer noch Berichte über ArbeiterInnen, wie zum Beispiel den Bericht über den „Haselnuss-Marsch“. Diese Medien sind hartnäckig, aber aufgrund ihres relativ unbekannten Status‘ und dem Fehlen der Fernsehberichterstattung sind die Berichte über ArbeiterInnen weit davon entfernt, gehört zu werden und noch weiter davon, die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen. Doch es wäre ein Irrtum zu denken, dass diese kritischen Medien aufgrund ihrer geringen Größe und ihres begrenzten Einflusses von Schikanen verschont bleiben würden.
Die oppositionelle Nachrichtenseite Sendika („Gewerkschaft“) steht im Zentrum einer der absurdesten – wenn auch nicht einer der grausamsten – Fälle von Medienunterdrückung. Man kann die Seite sendika.org; nicht besuchen, da sie am 25. Juli 2015 stillgelegt wurde, kurz nachdem Erdogans regierende Partei nach einem hitzigen Wahlkampf bei der Wahl ihre Mehrheit verloren hatte, wodurch ihre Vorgehensweisen noch aggressiver wurden. Doch jedes Mal, wenn Sendika stillgelegt wird, kommt die Seite zurück – und zwar mit fortlaufender Nummerierung: sendika2.org, sendika3.org etc.
Als dieser Artikel verfasst wurde, konnte die Seite auf sendika62.org aufgerufen werden.
Chefredakteur Ali Ergin Demirhan zeigt Humor in dieser Angelegenheit: Nach dem Launch der Seite sendika50.org im Juli bewarb er sich beim Guinness-Buch der Rekorde als die „meist-zensierte Website, die durchhält“.
Mit Verweis auf einen deutlichen Rückgang der Berichterstattung über ArbeiterInnen während des Ausnahmezustandes erklärt Demirhan, dass nicht direkte Zensur der Grund dafür sei – schließlich gebe es keine Regelung, die eine Berichterstattung dieser Art verbietet – sondern Selbstzensur. AutorInnen verzichten nicht nur darauf, neue Inhalte unter ihrem eigenen Namen einzureichen – sie bitten sogar darum, vorherige Beiträge oder Verfasserangaben zu entfernen.
„Wir haben einen erheblichen Verlust von Inhalten erlitten“, sagt er. „Diese Angst verhindert nicht nur neue Inhalte, sondern zensuriert auch erfolgreich zuvor veröffentlichte Inhalte.“
Kriminalisierung von Nachrichten
Nicht nur AutorInnen haben Angst: Demirhan erklärt, dass Quellen, auf die er sich stützte, um Berichte zu bestätigen, nun Angst hätten, Aussagen zu machen, die sie in Schwierigkeiten bringen könnten. Schlimmer noch: Auch ArbeiterInnen haben Angst, sich bei der Presse zu beklagen.
„Die Kriminalisierung von Nachrichten hält ArbeiterInnen davon ab, ihrem Ärger Luft zu machen“, ergänzt er.
Yunus Ozturk, Gründer der Nachrichtenseite Sol Defter (“Left Notebook”), weist auf ein ähnliches Phänomen hin: ArbeiterInnen haben persönlich darum gebeten, dass sie von archivierten Berichten oder Fotos, mit denen sie vorher kein Problem hatten, entfernt werden.
„Wenn man sich die Mainstream-Medien ansieht, hat man das Gefühl, es gebe gar keine ArbeiterInnenbewegung in der Türkei“, sagt Ozturk, und gibt an, dass diese Tatsache die Ursache für die Gründung von Sol Defter im Jahre 2010 war. „Es ist offensichtlich, dass es seit 2010 einen Rückschritt gibt. Es gibt einen Rückgang bei den Nachrichten, bei der Zahl von Menschen, die Berichte unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen wollen… eine Demoralisierung in der ganzen ArbeiterInnenbewegung.“
Trotz der fehlenden Berichterstattung sind ArbeiterInnen aber nicht verschwunden. Ozturk weist darauf hin, dass man sie immer noch finden kann, wenn man weiß, wo man suchen soll.
„Arbeitsgerichte und Social Media sind zwei mögliche belebte Orte, die voll von Berichten über ArbeiterInnen und ihre Reaktionen sind“, sagt er. „Sie sind einfach in den Mainstream-Medien nicht sichtbar.“
Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass das Fehlen der ArbeiterInnen in der Mainstream-Berichterstattung auch darauf zurückzuführen ist, dass keine Zeit dafür vorhanden ist, um über ArbeiterInnen und ihre Arbeit zu berichten – schließlich deckt fast die Hälfte des Nachrichtenzyklus‘ lange Reden des Präsidenten ab – und die andere Hälfte die Analysen dieser Reden. Aber tatsächlich geht es um Politik.
Dies wird deutlich, wenn man sich beispielsweise den „Haselnuss-Marsch“ ansieht. Grundsätzlich ist nichts falsch daran, über den Marsch zu berichten, außer, dass dabei zwei Todsünden begangen werden. Erstens: Es lässt die Oppositionspartei gut aussehen. Die Veröffentlichung solcher Berichte wurde bereits absichtlich hinter verschlossenen Türen unterbunden, noch bevor die Unterdrückung der Medien so schamlos wurde.
Zweitens, was noch wichtiger ist: Jegliche arbeitsbezogene Berichte, egal wie harmlos sie auch sein mögen, könnten InvestorInnen potentiell gefährden. Das ist ein Problem für eine Regierungspartei, die stark pro-investorisch ausgerichtet ist und die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Nullsummenspiel betrachtet.
Nichts verdeutlicht die „pro-business“, arbeitnehmerfeindliche Haltung des Präsidenten Erdogan besser als die Tatsache, dass er ausländischen InvestorInnen letzten Juli versicherte, dass der Ausnahmezustand ein Instrument war, um ArbeiterInnen zum Schweigen zu bringen.
„Wir verhängten den Ausnahmezustand, damit unsere Wirtschaft gut funktioniert“, sagte er. „Überall dort, wo es ein Streikrisiko gibt, können wir dank Ausnahmezustand sofort einschreiten. Wir sagen „Nein“, wir erlauben hier keinen Streik, weil unser Wirtschaftssektor nicht gefährdet werden darf. Dafür gibt es den Ausnahmezustand.“
„Kein wirtschaftlicher Fußabdruck“
Die Regierung hat aktiv bereits 13 Mal große Streiks verhindert, seit die regierende Partei 2002 das erste Mal an die Macht kam. Fünf dieser 13 Fälle erfolgten während des Ausnahmezustandes. Ein Streik, an dem 14.000 ArbeiterInnen erwartet wurden, wurde mit folgender Begründung verhindert: „Er gefährdet die finanzielle Stabilität.“ Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, durch den türkische ArbeiterInnen nun einen Weg finden müssen, um streiken zu können, ohne einen „wirtschaftlichen Fußabdruck“ zu hinterlassen.
In einem Land, in dem es das Ziel der Regierung ist, ArbeiterInnen unsichtbar zu machen und Medien dazu zu bringen, das zu schreiben, was die Regierung will, werden ArbeiterInnen sich selbst überlassen. Ein Beispiel ist Hakki Demiral, der seit über 20 Jahren auf einer Werft in Istanbuls Stadtteil Tuzla arbeitet. Demiral und seine Gewerkschaft organisieren eine Unterschriftenaktion für die Rechte der WerftarbeiterInnen. Zu ihren Forderungen gehören ein Ende der Schwarzarbeit, gerechte Bezahlung, die ihnen derzeit Arbeitgeber verweigern, sowie die erneute Eintragung der Werftarbeit auf die Protokollliste der gefährlichsten Berufe, wovon der Beruf kürzlich entfernt wurde.
Dadurch, dass jeden Tag vor einer anderen Werft ein Stand aufgebaut wird – es gibt rund 50 in Tuzla – hat er bereits mehr als 1000 Unterschriften in wenigen Wochen gesammelt. Trotzdem wird man über die schwierige Situation auf der Werft in den türkischen Medien nichts erfahren.
„Wir leben in einem Land, in dem die Presse mundtot gemacht wird, wo sie gekauft wird, und wo regierungsfreundliche Medien auf Anordnung des Präsidenten schreiben“, sagt Demiral. „Das war zu erwarten.“
Die WerftarbeiterInnen in Tuzla sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Situation von ArbeiterInnen und ihren Rechten durch ihre Sichtbarkeit in den Medien verbessern kann. Im Jahr 2008 gab es zwei große Streiks seitens der ArbeiterInnen wegen zahlreicher Todesfälle und nicht gezahlter Löhne. Durch die zunehmende Unterstützung der Bevölkerung schenkten auch die Medien ArbeiterInnen mehr Beachtung – dies sorgte für noch mehr Unterstützung durch die Bevölkerung und so weiter.
„Die Medien konnten keinen Protest mit 5000 bis 10.000 ArbeiterInnen ignorieren“, sagte Demiral, und den WerftarbeiterInnen und ihrer Gewerkschaft „ging es ein bisschen besser“. Es wurde eine Einigung erreicht, Verbesserungen wurden erreicht – wenn auch vielleicht nicht genug – und die Regierung fing an, die Bezahlung und die Sicherheit zu kontrollieren. Die ArbeiterInnen bewiesen, dass sie auch Macht haben, wenn sie es schaffen, ihre Botschaft nach außen zu tragen.
Seit 2008 hat sich vieles geändert, wenn man eine/n Arbeiter/in oder auch mehrere tausend in einer lokalen Zeitung sieht. Die ArbeiterInnen sind ängstlicher, die Medien sind ängstlicher, die ArbeitgeberInnen sind ängstlicher und auch die Regierung ist viel ängstlicher. Aber die ArbeiterInnen sind noch immer da draußen, sammeln Unterschriften, boykottieren, und fordern ihre Rechte vor Gericht ein – auch wenn ihre Rechte in den Medien nicht mehr sichtbar sind.
Cinar Kiper arbeitet als Autor und Journalist in Istanbul.
Aus dem Englischen übersetzt von Katja Deinhofer.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind jene des Autors und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten des International Press Institute (Internationales Presseinstitut, IPI) wider.