Deutschland sollte seine gegenwärtige EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um die Pressefreiheit innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen zu verteidigen, sagte das International Press Institute (IPI) in einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel.
„Wir sind überzeugt, dass Deutschland eine Führungsrolle spielen kann bei der Verteidigung der Rechte der Journalisten, damit sie ihre Arbeit ausführen können”, so IPI in dem Brief, der die Bedrohung der Pressefreiheit an Orten wie Ungarn, der Türkei, Ägypten, Hongkong und den Philippinen hervorhebt.
„In den kommenden Monaten wird Deutschland, das den Vorsitz in der Europäischen Union innehat, eine Gemeinschaft, die auf grundlegenden Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit beruht, in der Lage sein, das Programm der EU mitzugestalten. Wir bitten Sie eindringlich, die Verteidigung der Pressefreiheit zu einem Schwerpunkt dieses Programms zu machen. Die vielen Probleme, mit denen die Welt konfrontiert ist – von der Covid-19-Pandemie bis zum Klimawandel – können ohne den freien Ideenaustausch, den der Journalismus ermöglicht, nicht bewältigt werden.“
Siehe vollständiger Brief unten
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An Ihre Exzellenz
Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland
Frau Dr. Angela Merkel
Berlin
18 August 2020
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,
das International Press Institute (IPI), ein globales Netzwerk an Redakteuren, Medienvertretern und führenden Journalisten, ersucht Sie in diesem Schreiben, die Gelegenheit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, um die Pressefreiheit innerhalb und außerhalb der Grenzen der Europäischen Union zu verteidigen.
Pressefreiheit bildet die Grundlage für demokratische, offene und rechtsstaatliche Gesellschaften. Ohne freie und pluralistische Medien sind die Bürger nicht in der Lage, das Handeln ihrer Regierungen zu hinterfragen oder die ihnen garantierten Grundrechte zu verteidigen.
Doch wohin wir auch blicken, die Pressefreiheit ist massiv bedroht. Journalisten werden verhaftet, schikaniert, angegriffen und sogar getötet, weil sie ihre Arbeit verrichten. Die staatlich gelenkte „Vereinnahmung der Medien” nimmt zu, da die Regierungen versuchen, den Informationsfluss stärker in ihre Gewalt zu bringen. Unabhängige Medien werden als Feinde und Verräter diffamiert, mit dem Ziel, ihre Arbeit zu untergraben und sie zum Schweigen zu bringen.
Diese Entwicklungen haben sich im Zuge der Covid-19-Pandemie noch verschärft. IPIs Press Freedom Tracker hat mehr als 420 Verstöße und Angriffe auf die Presse in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Epidemie erfasst. Darüber hinaus hat die Pandemie zu einer Explosion autoritärer „Fake News”-Gesetze und anderen Einschränkungen geführt, die darauf abzielen, Informationen zu ahnden, die von der offiziellen Seite abweichen. All dies wird einen noch größeren Abschreckungseffekt auf die Presse ausüben, in einer Zeit, in der wir unabhängigen Journalismus mehr denn je brauchen, um sachlich fundierte Informationen zu verbreiten und die zum Schutz der Gesundheit getroffenen Maßnahmen der Regierung zu analysieren.
Es müssen unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, um dieser neuen globalen Welle an Angriffen auf unabhängige Medien Paroli zu bieten. Wir sind überzeugt, dass Deutschland eine Führungsrolle spielen kann bei der Verteidigung der Rechte der Journalisten, damit sie ihre Arbeit ausführen können. Die Übernahme des EU-Vorsitzes durch Ihre Regierung verleiht Ihrer Stimme an einem entscheidenden Wendepunkt für die Zukunft der Grundrechte und Grundfreiheiten in der ganzen Welt mehr Gewicht.
Einige dieser Angriffe finden vor Deutschlands Haustüre statt. Unter dem Blick der EU hat die ungarische Regierung während der letzten 10 Jahre die Medienfreiheit abgebaut. Sie hat den Medienmarkt manipuliert und staatliche Mittel missbraucht, um die unabhängige Presse zu schikanieren und zu verdrängen. Ferner hat sie die Pandemie als Vorwand genutzt, um Gesetze für „Fake News” zu erlassen, mit denen diejenigen eingeschüchtert werden sollen, die den Umgang der Regierung mit der Krise in Frage stellen. Diese Entwicklungen erinnern deutlich an Russland, das ebenfalls die Pandemie dazu genutzt hat, die direkte Zensur zu verschärfen und Kritiker mit einem eigenen, noch drastischeren „Fake News”-Gesetz zu verängstigen.
Zwei der wichtigsten Handelspartner der EU, Ägypten und die Türkei, sind gleichzeitig auch zwei der weltweit größten Schreckgespenster für Journalisten, von denen mehr als 60 in Ägypten und über 80 in der Türkei inhaftiert sind. Unterdessen wurde Saudi-Arabien, ein weiterer wichtiger Bündnispartner der EU, für den brutalen Mord an Jamal Khashoggi im Jahr 2018 nicht zur Rechenschaft gezogen.
In Hongkong wird die Welt Zeuge der Abschaffung demokratischer Freiheiten, einschließlich der Pressefreiheit. Chinas so genanntes „Sicherheitsgesetz” wird bereits verwendet, um sowohl inländische als auch ausländische Journalisten, die es wagen, die Regierung in Peking zu kritisieren, zu bedrohen und zu schikanieren. Somit enthält es Millionen von Menschen in Hongkong unabhängige Nachrichten von öffentlichem Interesse vor.
Auf den Philippinen hat die Regierung von Rodrigo Duterte unabhängige Medien ins Visier genommen und dem Sender ABS-CBN die Lizenz entzogen. IPI-Vorstandsmitglied Maria Ressa sieht sich mit acht grundlosen Strafanzeigen konfrontiert, die dazu benutzt werden, sie und ihre Nachrichtenseite Rappler für ihre unnachgiebige Berichterstattung über Dutertes Regierung zu bestrafen.
Auf dem amerikanischen Kontinent ist Mexiko nach wie vor das für die Presse weltweit tödlichste Land, allein in diesem Jahr wurden bis zu 7 Journalisten getötet, mehr als 100 Tote waren es in den letzten 10 Jahren und das bei fast völliger Straffreiheit. Doch trotz dieser bestehenden Gefahr greift Präsident Andrés Manuel López Obrador regelmäßig Journalisten verbal an, was das ohnehin schon feindselige Umfeld noch verstärkt.
Die Stimme von Regierungen, die bereit sind, für die Medienfreiheit einzutreten, war noch nie zuvor so wichtig wie jetzt. In den kommenden Monaten wird Deutschland, das den Vorsitz in der Europäischen Union innehat, eine Gemeinschaft, die auf grundlegenden Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit beruht, in der Lage sein, das Programm der EU mitzugestalten. Wir bitten Sie eindringlich, die Verteidigung der Pressefreiheit zu einem Schwerpunkt dieses Programms zu machen. Die vielen Probleme, mit denen die Welt konfrontiert ist – von der Covid-19-Pandemie bis zum Klimawandel – können ohne den freien Ideenaustausch, den der Journalismus ermöglicht, nicht bewältigt werden.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, Bemühungen zu unterstützen, die darauf abzielen, dass die Pressefreiheit als Grundrecht in allen EU-Mitgliedstaaten geschützt wird. Ebenso glauben wir, dass Deutschland sowohl in seiner Rolle als Ratspräsident und darüber hinaus für die Pressefreiheit auch außerhalb der EU-Grenzen vehement eintreten kann und muss, wo die Anzahl an Staaten, die dazu bereit sind, abnimmt und die Anzahl an Regierungen, die unabhängige Medien angreifen, wächst.
In einer Zeit, in der so vielen Journalisten und unabhängigen Nachrichtenagenturen weltweit für ihr Recht kämpfen, über Ereignisse berichten zu können, ist Ihre Stimme und die Stimme Deutschlands, sich für die Grundrechte einzusetzen, von großer Bedeutung.
Hochachtungsvoll,
Barbara Trionfi
IPI Geschäftsführende Direktorin