Die slowakischen Massenmedien standen in diesem Jahr bei der Aufklärung der Öffentlichkeit über die Gefahren der COVID-19-Pandemie an vorderster Front. Da die Desinformationskampagnen zunehmen und die Pandemie immer schlimmer wird, stehen die Medien jedoch auch vor neuen Herausforderungen bei ihrem Streben, die Wahrheit zu verteidigen.
Am 27. September, wenige Wochen nachdem die zweite Welle der Coronavirus-Pandemie die Slowakei traf, erschien Marian Kotleba, Vorsitzender der neofaschistischen Volkspartei Unsere Slowakei (LSNS) und bekannter Verfechter von Verschwörungstheorien zu COVID-19, in einer im Fernsehen übertragenen politischen Debatte beim öffentlichen slowakischen Rundfunksender RTVS und weigerte sich, eine Gesichtsmaske aufzusetzen. Kotleba brach die internen Regeln von RTVS, ignorierte die Aufrufe des Gastgebers, eine Maske zu tragen, und behauptete weiter, das Tragen von Masken sei „gefährlich”, da „die Lungen beim Ausatmen verschiedene Giftstoffe produzieren”.
Dieser Vorfall in einer der meistgesehenen wöchentlichen politischen Sendungen in der Slowakei löste in der Öffentlichkeit eine Welle der Kritik aus. „Das gefährliche Zeug, das Marian Kotleba sagt, kann das Verhalten der Menschen wirklich beeinflussen, und deshalb kann er nicht ignoriert werden”, sagte Juraj Šeliga, Abgeordneter der Partei Für das Volk (Za ludi), der beim regionalen Gesundheitsamt eine Beschwerde gegen Kotleba einreichte, weil er sich nicht an die offiziellen epidemiologischen Maßnahmen hielt. „Kotleba hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten”, sagte Šeliga in einer Erklärung. „Es liegt in unserer Verantwortung, gegen Verschwörungen und Lügen vorzugehen, die die Gesundheit der Menschen gefährden können”, fügte er hinzu.
Marek Makara, Gastgeber der RTVS-Debatte, argumentierte, dass Kotleba in der Sendung keine direkten Verschwörungen verbreitet habe. „Seine Meinungen wurden dem Abgeordneten der Koalition sowie dem Arzt und ehemaligen Gesundheitsminister Richard Rasi gegenübergestellt, so dass die verschiedenen Ansichten angemessen vertreten und ausgewogen waren, RTVS kann in diesem Sinne nicht verantwortlich gemacht werden”, sagte er in einer Stellungnahme. „Wenn wir [Marian Kotleba] hinauswerfen würden, würde ich ihn zu einem Opfer und einem Helden machen. Obwohl mich viele liberale Journalisten dafür kritisiert haben, hat sich bestätigt, dass meine Entscheidung richtig war, denn er blieb nur innerhalb seiner eigenen Facebook-Blase ein Held”, meint Makara.
Experten für Fehlinformation stimmen dem jedoch nicht zu. „Der Gastgeber der Diskussion ist spektakulär gescheitert”, meint Tomáš Kriššák, ein führender Experte für Informationssicherheit in der Slowakei. „Ein Gastgeber ist wie ein Dirigent eines Orchesters, er entscheidet darüber, ob die Gäste beim Thema bleiben, ob sie sich an die Fakten halten. Er hat das Recht einzugreifen, wenn jemand die Diskussion stört und die Redefreiheit missbraucht”, sagte Kriššák. „Würde Kotleba rausgeworfen, würde das der Gesellschaft sofort zeigen, dass eine solche Ignoranz und die Gefährdung anderer nicht toleriert wird. Es wäre ein sehr starkes Signal”, meint der Experte. Weiters erklärt er, Kotleba würde in diesem Fall sicherlich nicht als Held angesehen werden. „Indem er mehr Raum bekam und sagte, was er wollte, legitimierte Kotleba seine eigene Vorgehensweise”, fügte Kriššák hinzu.
Fruchtbares Terrain für Verschwörungstheorien
Die Verbreitung von Desinformation in einflussreichen Medien zuzulassen, könnte in der Slowakei, wo laut der jüngsten Umfrage des Globsec Policy Institue im Durchschnitt 56 Prozent der Menschen an Verschwörungstheorien glauben, der höchste Wert in der mittel- und osteuropäischen Region, problematisch werden. Und während der Hauptkanal für Falschinformation nach wie vor Facebook ist, haben sich verschiedene Aussagen allmählich in den gängigen Medien verbreitet, vor allem dank extremistischer und populistischer Politiker. „Viele der öffentlichen Äußerungen der (ehemaligen Regierungspartei) SMER und ihrer Vertreter gehen ebenfalls in diese Richtung”, so Daniel Milo, Analyst bei Globsec. Laut Milo versuchen immer mehr Mainstream-Parteien in der Slowakei mit der extremistischen LSNS zu konkurrieren, auch durch die Verbreitung von Fehlinformation.
Der einzige TV-Nachrichtensender in der Slowakei, TA3, hat auch in diesem Jahr Mühe, Informationen über das Coronavirus auszutarieren. „Es begann mit Soňa Peková, die ihre Theorie, dass COVID in den Labors entstand, als erstes bei TA3 zum Ausdruck brachte”, sagte Vladimír Šnídl, Journalist bei Denník N, der den größten Teil seiner Arbeit dem Kampf gegen Desinformation und Schwindel widmet. Peková ist eine tschechische Molekularbiologin, die zum aufgehenden Stern von Verschwörungs-Websites wurde, nachdem sie im Frühjahr begann, die Herkunft und die Gefahren des Coronavirus zu hinterfragen. Im September luden die TA3-Gastgeber weitere verschwörungsanfällige Gäste zu ernsthaften Diskussionen über COVID-19 ein und gaben einem Ernährungsberater, der an der Pandemie zweifelt, oder zwei Antivaxx-Promotoren Raum, ihre Ansichten darzustellen .
Politiker und Experten sind sich einig, dass die ständig wachsende zweite Welle des Coronavirus in der Slowakei stark durch die „Infodemie” des öffentlichen Raumes – von der Politik über Facebook bis hin zu den Medien – beeinflusst wurde. Infolgedessen und nach weiteren Maßnahmen sank die Befürwortung für das Tragen von Gesichtsmasken von 94 Prozent im April auf 62,5 Prozent im September, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Focus für Denník N und TV Markiza ergab. Laut einer weiteren Umfrage der Agentur Ipsos vom Oktober wissen 54 Prozent der Slowaken nicht, welche Informationen über COVID-19 sie glauben können.
Als Reaktion auf die wachsende Informationssicherheitskrise verstärkten jedoch auch viele slowakische Medien ihren Kampf gegen Falschinformation. „Die Medien selbst verfügen über die Grundvoraussetzungen für den Kampf gegen Desinformation”, sagte Šnídl, der 2019 bei Denník N. eine spezielle Rubrik mit dem Titel Krotime hoaxy (Wir zähmen den Hokuspokus) ins Leben rief und entlarvende Geschichten und Videos auf der Nachrichtenseite, auf Facebook und YouTube veröffentlichte. „Medien haben immer noch eine große Reichweite, sie können die Botschaft einem großen Publikum vermitteln. Gleichzeitig können sie verstehen, wie Fehlinformation funktioniert, und sie können sie für das Publikum aufschlüsseln”, fügte er hinzu. „Aber es reicht nicht aus, Artikel zu schreiben, wir müssen mehr tun”, sagte der Journalist.
Falschinformationen entlarven
Im Jahr 2017 schuf Denník N. ein spezielles Magazin, das sich der Bekämpfung von Schwindel und Fehlinformationen widmet und Lehrern und Schulen bei der Vermittlung von Medienkompetenz oder kritischem Denken helfen soll. „Ich sehe die Medien heute nicht als das Hauptproblem. Das Problem sind die sozialen Netzwerke, vor allem Facebook, und die geringe Medienkompetenz in der Gesellschaft”, sagte Šnídl. „Das Interesse an der Zeitschrift war groß, Hunderte von Lehrern schrieben uns”, so der Journalist, der anschließend Klassen und Workshops über Desinformation in Schulen abhielt. Wann immer er kann, spricht er mit verschiedenen Zuhörern in unterschiedlichen Medien über Fehlinformation und ist der Meinung, dass die Boulevardmedien auch während der Pandemie eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Gesellschaft spielen. „Wenn wir einen Schwindel entlarven, erreicht das nur eine bestimmte Blase unserer Leser, aber eine Boulevardzeitung kann auch jene Menschen erreichen, die tatsächlich das Ziel des Schwindels sind”, sagte er.
Die Art und Weise, wie Boulevardzeitungen an die Coronavirus-Verschwörungen herangehen, ist jedoch ebenfalls wichtig. Diesen Monat stellte Nový Čas pre Ženy, eine beliebte wöchentliche Boulevardzeitschrift, die Frage: „Sind Impfstoffe und Masken schädlich?” Journalisten entlarvten die populärsten Mythen und Verschwörungen über das Virus und luden Experten ein, um die Fakten bekannt zu machen, aber die Frage im Titel schafft Raum für Zweifel. „Wenn man eine solche Schlagzeile veröffentlicht, neigen die Leute dazu, sich eher an die Lüge zu erinnern, die sie zuerst gelesen haben”, sagte Kriššák.
Im Oktober startete der Slowakische Rundfunk, Teil des RTVS-Netzwerks, im Rahmen seiner Montagmorgensendung Dobré ráno, Slovensko (Guten Morgen, Slowakei), eine Sondersendung, die sich der Entlarvung populärer Schwindel im Zusammenhang mit dem Coronavirus widmet. Experten für Falschinformationen wurden Teil des Produktionsteams und stellten sicher, dass Fakten und Wahrheit die höchste Priorität erhielten. „Wir sprachen zum Beispiel darüber, dass man das Coronavirus mit kolloidalem Silber nicht besiegen kann oder dass 5G-Technologien das Virus nicht verbreiten”, sagte Krišššák, der darauf hinwies, dass eine Gruppe von medizinischen Experten oder Analysten in der Sendung auftreten werde.
„Die Medien sollten Desinformation grundsätzlich und vor allem verantwortungsvoll angehen”, sagte Kriššák. „Soziale Netzwerke haben bereits einen schlechten Ruf, und die Menschen haben unbewusst das Gefühl, dass sie dem, was sie dort sehen, nicht trauen sollten, auch wenn es in Wirklichkeit eine Fehlinformation ist”, fügte er hinzu. „Umso wichtiger ist es, dass diese Fehlinformation nicht das Radio, das Fernsehen und andere traditionelle Medien erreicht, damit sie zu den Säulen werden, auf die sich die Menschen in Zeiten der Unsicherheit verlassen können.
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