2020 war für die ungarischen Medien das schwierigste Jahr seit dem Fall der Berliner Mauer vor über 30 Jahren. Das langsame Ersticken unabhängiger Medien durch die Regierung wurde beschleunigt, und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie zwangen alle Medienunternehmen, den Gürtel enger zu schnallen. Aber die beängstigendste Entwicklung, zumindest aus der Sicht der ungarischen Journalisten, war der – bisher recht erfolgreiche – Krieg, den ein Unternehmen gegen jene Medien führte, die mutig genug waren, über seinen Eigentümer zu schreiben.
Alles begann im Januar, als der Herausgeber der ungarischen Ausgabe des Forbes-Magazins gezwungen war, seine Ausgabe mit der Auflistung der reichsten Ungarn zurückzurufen. Ein Gericht hatte nach einer Beschwerde von Hell Energy, einem Hersteller von Energiegetränken im Besitz der Familie Barabás, eine einstweilige Verfügung erlassen, die den Herausgeber dazu verpflichtete. Das Urteil erzwang die Entfernung des Namens Barabás sogar aus der Online-Version des Artikels.
Um das Gericht zu überzeugen, berief sich die Barabás-Familie auf die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die Datenschutzverordnung der EU, die seit 2018 in Kraft ist. Nach ihrem Triumph Anfang des Jahres schlugen sie im Oktober erneut zu, als sie mit dem gleichen Argument vor Gericht erfolgreich die unabhängige Wochenzeitung Magyar Narancs zur Selbstzensur ihres Artikels über Hell Energy zwangen.
„Das war das erste Mal in unserer Geschichte, dass wir einen solchen Artikel veröffentlichen mussten”, sagte Endre B. Bojtár, Chefredakteur der Magyar Narancs gegenüber IPI. Der in der Wochenzeitung veröffentlichte Artikel enthielt statt des beabsichtigten Inhalts lange Abschnitte, in denen ausführlich beschrieben wurde, wie es Hell Energy gelang, ihre journalistische Arbeit zu unterdrücken.
Neue Belastungen
Beide einstweiligen Verfügungen schlugen hohen Wellen in der ungarischen Medienlandschaft, was die ohnehin schon schwierige Situation der Informationsfreiheit noch weiter verschärfte. Aber es war die Entscheidung der ungarischen Nationalbehörde für Datenschutz und Informationsfreiheit (NAIH) im August, die wirklich beunruhigend war. Zu einer Zeit, als der größte Teil des Landes mit der Coronavirus-Pandemie beschäftigt war, entschied die NAIH, dass Forbes schuldig sei, die Personen auf seiner Liste der reichsten Ungarn nicht darüber informiert zu haben, wie es mit ihren Daten umgeht und welche Rechte sie haben, bei einer Aufsichtsbehörde Beschwerde einzulegen.
Nach Ansicht der NAIH können solche Listen nur veröffentlicht werden, wenn die Journalisten ihre Informationen strikt mit den betroffenen Personen abstimmen. Forbes erhielt außerdem eine Geldstrafe von rund 12.000 Euro, aufgrund der Handhabung der Daten der Barabás und einer anderen beschwerdeführenden Familie, obwohl alles, was die Zeitschrift veröffentlichte, aus öffentlichen Datenbanken stammte.
„NAIH hat klar gesagt, dass solche Listen veröffentlicht werden können”, sagte Márton Galambos, Chefredakteur von Forbes, gegenüber IPI, als er gefragt wurde, wie sich die Entscheidung auf ihre Arbeit auswirkt. „Wir werden unsere Liste definitiv im Jahr 2021 veröffentlichen und uns dabei an alle Regeln halten, die es gibt. Das macht unsere Arbeit nicht unmöglich, sondern verkompliziert sie nur. Mit etwas Hilfe von Anwälten haben wir einen Brief verfasst, den wir nun regelmäßig an alle Personen schicken, über die wir schreiben, so dass dies meist eine administrative Aufgabe ist. Wir können damit leben, aber ich bin mir nicht sicher, ob kleinere Medienunternehmen damit leben können”.
Bojtár ist weit weniger optimistisch: „Wenn der Schutz personenbezogener Daten das Recht, öffentliche Daten zu erhalten und zu veröffentlichen, außer Kraft setzt, dann stecken wir in sehr großen Schwierigkeiten. Ich hoffe, dass so etwas nicht in der Europäischen Union passieren kann”.
Dieser Interessenkonflikt steht im Mittepunkt beider Fälle, erklärte Attila Mráz, ein Experte des Political Liberties Project der Hungarian Civil Liberties Union (HCLU/TASZ), IPI. „Ungarische Gerichte haben zugunsten des Schutzes der persönlichen Daten der Betroffenen entschieden und dabei völlig ignoriert, dass sie mit ihren Verfügungen einen Akt der Zensur begehen. Was sie in beiden Fällen verbieten, ist die journalistische Praxis, wesentliche Daten über den Aufstieg wohlhabender Geschäftsleute, die Empfänger staatlicher Subventionen sind, zu veröffentlichen”.
TASZ vertritt Forbes und Magyar Narancs rechtlich, und beide Stellen haben gegen die Verfügungen Berufung eingelegt. Forbes verklagte NAIH auch wegen der Geldstrafen, die sie gegen das Magazin verhängt hatten.
Doch der Rechtsweg ist zeitaufwändig. „Einer dieser Fälle begann vor über 9 Monaten, und wir sind noch lange nicht am Ende”, sagte Mráz. „Man kann mit Fug und Recht sagen, dass diese Entscheidungen die Presse daran hindern, nachzuforschen und Berichte zu veröffentlichen, wann und wie sie will. Daher wird die Öffentlichkeit daran gehindert, Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu erfahren, z.B. wie staatliche Subventionen von ihren Empfängern verwendet werden. Das ist eine sehr ernsthafte Behinderung der Medienfreiheit und des Rechts der Öffentlichkeit, informiert zu werden”.
Problematische Umsetzung
Sowohl die NAIH als auch die Gerichte, die die einstweiligen Verfügungen erlassen haben, beriefen sich in ihren Urteilen auf die DSGVO. Im Gegensatz zu vielen EU-Mitgliedsstaaten hat Ungarn Journalisten nicht von seinen Beschränkungen im Umgang mit Daten entbunden. (Es ist nicht ganz allein: Insbesondere die rumänischen Behörden sind auch kritisiert worden, weil sie die DDRP-Gesetzgebung missbrauchen, um die Medienfreiheit einzuschränken).
Mráz und die beiden Redakteure, die mit IPI sprachen, stimmten überein, dass ihre Probleme nicht von der DSGVO selbst herrühren, sondern von dessen Umsetzung durch die ungarischen Behörden.
Laut Mráz „haben die Gerichte den Aspekt der Informationsfreiheit in diesen Fällen einfach ignoriert und sich dafür entschieden, ausschließlich persönliche Daten zu schützen. NAIH räumte zwar ein, dass es einen Konflikt zwischen diesen Menschenrechten gibt, beschloss aber, die Presse unverhältnismäßig zu belasten. Es sollte offensichtlich sein, dass ein großer Teil der Arbeit von Journalisten der Umgang mit persönlichen Daten ist.
Galambos zeichnete ein anschauliches Bild davon, wie es zu den Urteilen gegen seine Zeitschrift kam. „Die Vorschriften der EU sind manchmal weder weiß noch schwarz, und dies gepaart mit der Neigung der ungarischen Behörden, Schlupflöcher auszunutzen, führte dazu, wo wir jetzt stehen.“
Es bleibt abzuwarten, ob es sich um Einzelfälle handelt oder ob das Beispiel der Familie Barabás andere auf den gleichen Weg führt. „Ich hoffe, dass es sich um Einzelfälle handelt und es nicht Teil einer Regierungsoffensive ist”, sagte Bojtár. Galambos stimmt dem zu: „Ich glaube nicht, dass das ein Zwischenschritt im Krieg gegen die Medien ist. Aber dass ein Unternehmen wie Hell Energy überhaupt über einen solchen Angriff auf Forbes nachdenkt, liegt zum Teil daran, wie unabhängige Medien derzeit in Ungarn behandelt werden”.
Für Mráz passt das, was Hell Energy tut, in den ungarischen Trend, unabhängigen Medien das Leben schwer zu machen und eine Atmosphäre der juristischen Schwebe für den Journalismus zu schaffen. „Neu ist die Berufung auf den Schutz personenbezogener Daten, da es in der Regel eine zivilrechtliche Verleumdungsklage ist, die diejenigen benutzen, die daran interessiert sind, die ungarischen Medien zum Schweigen zu bringen. Es ist sehr wichtig, zu verhindern, dass diese Art von Rechtsstreitigkeiten zur gängigen Praxis wird”.
Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, um herauszufinden, ob TASZ und ihre beiden Mandanten in diesem Kampf erfolgreich sind. „Wenn die Gerichte eine falsche Entscheidung treffen, wird das das Ende des ungarischen Journalismus sein”, warnt Bojtár.
Und selbst wenn es eine richtige Entscheidung gibt, bleibt – inmitten der Pandemie und der unerbittlichen Angriffe der ungarischen Regierung auf unabhängige Medien – abzuwarten, ob es noch unabhängige Medien geben wird, die diese Entscheidung feiern können.
Aus dem Englischen übersetzt von Julia Rieser
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